Es gibt gute Gründe, seine Eltern nicht in die eigene Wohnung zu lassen. Eltern haben häufig ein anderes Verständnis von Ordnung und Lebensart als man selbst, und vor allem werden Eltern sofort wieder ganz schrecklich zu Eltern, wenn sie erstmal in der Nähe ihrer Kinder egal welchen Alters sind.
Nach drei Jahren ist nun aber Papa zum ersten Mal in meiner Wohnung, und es passiert alles, was zu befürchten war. Er organisiert die Küche um und verkabelt die elektrischen Geräte neu. Er inspiziert Handtücher und Spülschwämme und macht gleich mal Listen, was ich alles neu brauche. Er sucht beim Essen sogar, ohne mit der Wimper zu zucken, nach dem Serviettenhalter („WAS suchst Du???“ – „Wie, Du hast KEINEN?“). Erst als ich mich im Schlafzimmer auf den Boden werfe und „Stop! Die Putzfrau war erst GESTERN hier!“ schreie, macht er den Staubsauger aus und stellt ihn wieder weg. Es folgen diverse Verbesserungsvorschläge, was die Garderobe angeht, unverständliche Fragen zur Bauweise des Hauses und eine umfassende Inspektion und Neuordnung der Lebensmittelvorräte.
Irgendwann entdeckt er den Schuhkarton, in dem ich die Steuerunterlagen sammle. Natürlich rupft er ihn auf und ordnet alles. Danach entdeckt er die vielen ungeöffneten Briefe, die hier so herumliegen, und weil er nicht glaubt, dass ich weiß, was drinsteht und es keinen Handlungsbedarf gibt, öffnet er sie alle und liest sie. Natürlich gibt es Handlungsbedarf, der besteht im Abheften, nur, dass ich keine Ordner habe. Es folgt eine neuerliche Aufzählung an praktischen Haushaltsdingen (sans Serviettenhalter), und ich sehe mich schon mit ihm im Obi-Markt flanieren. Dass der VG-Wort-Scheck unbedacht auf dem Klavier liegt, erschüttert ihn, den Ex-Banker, bis ins Mark, schließlich könne er doch so im Müll landen. Meine Frage, wer den Scheck denn wohl in den Müll werfen würde, weil er nicht weiß, dass es ein Scheck ist, beantwortet er mit einem würdevollen Schweigen.
Ich vermute, ihm ist langweilig. Also denke ich über Beschäftigungstherapien nach. Schicke ihn zum Einkaufen (zu Fuß) und ködere ihn schließlich mit ein paar DVD-Dokumentationen über das Nachkriegsdeutschland. Das ist in etwa so, wie wenn man seine gerade Schulpflichtigen für drei Stunden vor Spongebob setzt: Ruhe kehrt ein. Naja nicht ganz: Das Sofa ist ihm zu niedrig, ich soll es bitte zum Sperrmüll geben und mir ein neues kaufen, da gibt es ganz tolle von Benz, nur so zum Beispiel. Ikea, sage ich und denke ernsthaft über die Existenz von Parallelwelten nach und wie es sein kann, dass manche Kinder so aus der Umlaufbahn geraten, dass sie gleich das Sonnensystem wechseln.
Berlin behandelt er wie die Kleinstadt, in der er lebt und die eigentlich ein Dorf ist: Er will irgendwann diese Woche noch „in die Stadt“ fahren. Ich lasse eine Stunde später beiläufig den Reiseführer mit Karte auf dem Wohnzimmertisch liegen, so als hätte er noch nie woanders gelegen. Als er die Berlin-Meldungen im Radio hört, ist es, als sei all das direkt vor meiner Haustür geschehen. Das Busunglück war nicht in Tegel, sondern gefühlt in der Clayallee, und das getötete Kleinkind liegt nicht mehr im Straßengraben von Moabit, sondern vor Vaters geistigem Auge in einem der Parks der FU.
Nun ist also passiert, was ich sonst im Jahreskreislauf zu vermeiden weiß, unter anderem durch die Aussparung von Weihnachten in der sogenannten Heimat (=mittelhessisches Sperrgebiet): Ich bin wieder ganz Kind. Wenn man behandelt wird wie sechzehn, dann benimmt man sich meistens auch so. Geht irgendwann mürrisch in sein Zimmer, hört laute Musik und lässt überall seinen Müll rumliegen.
Dafür habe ich jetzt, nach nur einem Tag, die sauberste Wohnung in ganz Dahlem. Auch die ordentlichste und aufgeräumteste. Mein Klospülkasten ist repariert, meine Stereoanlage läuft wieder, und meine Mäntel hingen nie schöner in Reih und Glied. Ich bestelle heimlich im Internet ein paar von den Sachen, die er als unverzichtbar aufgezählt hat (immer noch sans Serviettenhalter, der ist nach wie vor verzichtbar). Und dann verstehe ich: Es geht gar nicht darum, dass ich in manchem nachgegeben hätte oder mich seinem Willen beugen würde. Sondern einfach nur darum, dass er auch manchmal Recht hat. Nicht immer, weil er aus einem anderen Universum stammt, aber manchmal gelten die gleichen Naturgesetze, und dann hat er Recht.
Es ist gar nicht so leicht, das mit dem Erwachsenwerden.
Dienstag, Dezember 11, 2007
Parallelwelten (Eltern)
Eingestellt von Henrike um 1:20 AM
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5 Kommentare:
* notiert sich für Wichtelweihnachtsgeschenk an dich und AOEA "Serviettenhalter"
Und ich frage scheu: Hast du denn die richtigen Servietten, die du in den Serviettenhalter hineintun kannst?
Das ist so herrlich und wahr, was du berichtest. Meine Eltern waren auch letztens hier, mit nickenden Köpfe und beifallspendende weit geöffnete Augen: "Wir müssen dir mal sagen, so ordentlich und sauber war es noch niiiieeee bei dir - liegt wohl am Alter?"
*notiert sich: richtige servietten zum in den serviettenhalter reintun kaufen
he he he.
ich hab silberne serviettenhalter.
aber keine servietten.
*bindet sich eine schürze zum essen um
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