Dienstag, Dezember 18, 2007

In Ordnung

In einem idyllischen Nest, irgendwo in Baden-Württemberg: Die Menschen, die dort leben, haben zum größten Teil Arbeit, die Region ist verhältnismäßig wohlhabend, der Einzelhandel blüht. Es gibt niedliche Fachwerkhäuschen in den engen, kopfsteingepflasterten Straßen (vorbildlich begrünt), und wenn man im Café an dem niedlichen Bächlein sitzt, hat man das Gefühl, dass hier noch alles wirklich schwer in Ordnung ist.
Wäre da nicht die Sache mit dem Waisenjungen. Nennen wir ihn Sebastian, weil mir gerade kein besserer Name einfällt. Sebastian ist 12 Jahre alt und lebte einige Jahre in einer Pflegefamilie. Aber Sebastian war nicht in der Lage, soziale Kontakte aufzubauen. Das fand der Betreuer vom Jugendamt irgendwie schlecht und nahm ihn aus der Pflegefamilie raus. Vor ungefähr einem Jahr. Seitdem hat sich Sebastian in der Schule immerhin von überall ungenügend auf überall mangelhaft verbessert. Aber er hat auch 10 Kilo zugenommen, seit er im Waisenhaus wohnt, und Freunde hat er immer noch keine. Das Jugendamt ist trotzdem zufrieden.
Einer seiner Lehrer versucht schon seit langer Zeit, mit Sebastian Kontakt aufzunehmen, aber es gelingt ihm nicht. Er hat eine Klasse von über 30 Schülern, die auch so ihre Problemchen haben, aber er lässt nicht locker, weil er findet, dass Sebastian eine Konstante in seinem Leben braucht. Dieser Lehrer schreibt auch immer wieder Briefe an das Jugendamt, denn er findet, dass etwas mit Sebastian passieren muss. Besonders, seit Sebastian diese kleinen Zettel schreibt, auf denen etwas steht von Bomben und Amoklauf und Selbstmordattentat.
Das Jugendamt aber findet, dass Sebastian noch zu klein ist für Bomben und Amoklauf und Selbstmordattentat. Er ist ja erst 12. Aber auf der Akte klebt immerhin der Vermerk „dringend“, was die Bearbeitungszeit auf acht Wochen verkürzt. Sebastians Betreuer beim Jugendamt schlug kürzlich vor, ihn in eine geschlossene Anstalt einzuweisen. Der Lehrer findet, dass psychologische Betreuung dringend erforderlich ist, zweifelt aber ein wenig am dem Modell der Geschlossenen. Passiert ist immer noch nichts.
Der Lehrer hat nun schon zum, naja, er hat vergessen wievielten Mal an das Jugendamt geschrieben. Jetzt überlegt er, was er noch tun kann, weil er irgendwie doch Angst davor hat, dass dieses niedliche Nest in Baden-Württemberg demnächst in den Schlagzeilen ist. Er denkt immer an diesen Satz, den sie im Fernsehen gesagt haben, nachdem die Mutter in der Nähe von Plön ihre drei Jungs erstickt hatte: "Wir waren vor Ort und haben uns ein Bild von der Familiensituation gemacht. Das sah alles ganz ordentlich aus. Die Waschmaschine lief ja." So oder so ähnlich.
Das Jugendamt sagt zu ihm, sie würden gerne, aber sie haben zu wenig Kapazitäten, und vor Weihnachten passiert sowieso nichts mehr.
Sebastian malt weiter kleine Zettelchen mit Bomben, für die sich niemand außer diesem einen Lehrer interessiert. Was er, sagen wir, im Internet macht, das weiß auch sein Lehrer nicht.

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