Allergiker haben es in Deutschland nicht leicht. Sie werden meistbietend belächelt und am Ende gar als jämmerliche Waschlappen verhöhnt. In Großbritannien ist das anders. Jeder kann mit dem Begriff Antihistamine etwas anfangen, denn sie sind elementarer Bestandteil des britischen Lebens. So wenig wegzudenken wie Antibiotika und Paracetamol (beides nimmt man hier wie Smarties).
Erklärt man am Telefon in einer misslichen Lage dem netten Menschen am anderen Ende der Leitung, dessen Beruf es ist, Notrufe kompetent entgegenzunehmen, erklärt man ihm also, dass es sich um eine allergiebedingte Unpässlichkeit mit ungewissem Augang handelt, hat man schneller eine Ambulanz neben sich stehen, als man 999 wählen kann. Das ist beruhigend. Man fühlt sich erstgenommen und fast schon zu Hause in einer Kultur, die offenbar versteht, was man so durchmacht.
Zwanzig Minuten später aber, kaum, dass die Gefahr für Leib und Leben abgewandt ist, wünscht man sich wieder deutsche Verhältnisse. Wenn man nämlich auf die blutbespritzten Wände und gelbfleckigen Laken der Notaufnahme blinzelt und genau weiß: Nein, das sind keine Halluzinationen.
Auch das deutsche Zauberwort Privatpatient führt zu nichts. Die einzige Reaktion kommt von einer Krankenschwester, die einem den Arm tätschelt und in professionell-beschwichtigendem Ton sagt: "That’s all very well, love." Nur um alles, was man über seine Privatversicherung zu erklären versucht, komplett zu ignorieren. Der NHS kümmert sich nun mal um jeden EU-Bürger und will kein Geld, selbst wenn man es auf den Krankenhausflur werfen und schreien würde: "Behaltet es! Ich will es nicht! Ich will nur ein sauberes Laken!"
Dann aber wieder ein Lichtstrahl. Die Ärzte scheinen insgesamt deutlich entspannter zu sein. Wenn man weiß, wieviel sie hier verdienen, wundert es einen nicht mehr. Auch der Anteil ausländischer Ärzte ist damit erklärt ("Oh you're German? I'm from Holland!" oder "Heiland? Sind Sie aus Deutschland? Ich auch! Ich komm aus Bremen, und Sie?").
Sie nehmen sich viel Zeit, wenn sie erstmal aufgetaucht sind (was wiederum zwei bis fünf Stunden dauern kann, je nachdem, wie notfallig man nach der Erstversorgung eingestuft wird). Man fragt etwas und erwartet eine latent einsilbige, unverständliche Antwort, bekommt aber stattdessen eine sehr anschauliche Medizinvorlesung für Anfänger, dazu noch eine verständliche Extralektion in Arzneimittelkunde. Der Hypochonder in mir fühlt sich wohl und feiert (was ich nun erstmal für ein paar Tage vergessen kann, mit all den Antihistaminen, Antibiotika und Paracetamol... Hab ich was vergessen?).
Spannend bleibt die Scham des männlichen Mediziners vor der weiblichen Patientin. Kaum lüpft man den Pulli, damit die Herztöne besser abzuhören sind, wendet sich der Arzt panisch ab, rennt auf den Flur und zerrt die nächstbeste Krankenschwester in das Behandlungszimmer, damit diese über allem wacht. Ob nun der Arzt Angst vor der zudringlichen Patientin hat, oder ob die Patientin dem lüsternen Doktor nicht schutzlos ausgeliefert sein soll, bleibt ein Rätsel, klar ist nur, es sollen Prozesse wegen sexueller Belästigung nach amerikanischem Vorbild vermieden werden.
Erwähnenswert auch die grauhaarigen älteren Damen an der Rezeption, die über scheinbar endlose Geduld verfügen, sobald es um das Ausfüllen unübersichtlicher Zettel geht.
Ach es ist schön in diesem Land. Fast möchte ich auf das freundliche Angebot, noch ein paar Tage zur Beobachtung zu bleiben – aus rein landeskundlichem Interesse, natürlich - eingehen, da fallen mir wieder die blutverschmierten Wände ein, und ich denke mir, nein, ich habe genug gesehen. Ich kann es sicher mal in einem Buch verwenden. Und den Rest, den kann ich mir ja nun auch ausdenken.
Montag, Oktober 01, 2007
Kulturelle Unterschiede in Notsituationen
Eingestellt von Henrike um 9:11 AM
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