Donnerstag, Januar 24, 2008

Überraschungsangriff

Herr Stenzel schrieb mir, ich müsse ihn dringend begleiten. In einer Stunde am Friedrichstadtpalast. Ein Konzert. Dass Roland Kaiser singen würde, hielt ich für einen Scherz.
Roland Kaiser sang. Unglaublich. Der Mann hatte eine Band aus ordentlich spielenden Berufsmusikern hinter sich, bewegte sich in einem Aktionsradius von ca. zwanzig Zentimetern, sang ohne besondere Hingabe und alle jubelten ihm zu. Bei so viel „Wir lieben Dich“ und „Ich will ein Kind von Dir“ wunderte es, dass er überhaupt noch selbst sang, statt einfach nur dazustehen und alles vom Band ablaufen zu lassen. Die Leute hätten auch da geschrien und sich zum Obst gemacht.
Wirklich unglaublich. Ich sah Achtzehnjährige mit Bauchfrei in knallengen Glitzerjeans und übergewichtige Achtundsechzigjährige im karierten Pullunder. Sie sangen alle mit. Herr Stenzel und ich waren irgendwo recht weit oben eingeklemmt zwischen einer Reihe dauerwelliger Sprechstundenhilfen zur Rechten und einer Reihe schwuler Bodybuilder zur Linken. Zuletzt sah man so viel Solariumsbräune und blonde Strähnchen in den Achtzigern. Ich jedenfalls. Immerhin kannte ich vier Lieder, „Santa Maria“, „Schachmatt“ und noch zwei, achja, „Midnight Lady“, vielleicht kannte ich auch mehr, aber da sie für Nichtfans alle gleich klingen, weiß ich es nicht sicher. Herr Stenzel kannte ausnahmslos alle Lieder, wippte und sang auch heimlich mit, traute sich aber nicht, wie alle anderen aufzuspringen und mitzuschunkeln. Wohl aus Solidarität, weil ich mich vor Fassungslosigkeit nicht rühren konnte. Unglaublich.
Nach der Pause wurde es etwas besser, ich hatte Gummibärchen erstanden und konnte damit spielen. Der Mensch muss sich beschäftigen, sonst wird er unwirsch. Herr Stenzel begriff es und überließ mir alle Gummibärchen mit der Behauptung, Vegetarier zu sein. Treffsicher nannte er mir die noch zu spielenden Songs und reagierte mit Empörung auf mein fortgesetztes Schulterzucken. Nach den schier endlosen Zugabeblöcken war er noch minutenlang nicht wegzubewegen, da er auf weitere Zugabeblöcke hoffte. Es interessierte ihn nicht einmal, dass meine dauerhaft stehende und sprachlich sächselnde Sitznachbarin mir unentwegt ihre Handtasche, ihre Jacke oder ihren Hintern ins Gesicht rammte.
Wir verbrachten noch einige Zeit mit Anstehen an der Garderobe – Herr Stenzels Mantel, nicht meiner, ich kann auf meinen selbst aufpassen – und erfreuten uns an den Gesprächen der anderen. Andrea Berg sei das nächste Konzert, auf das man sich freue, behauptete die Dame vor mir, und die Herren hinter mir sangen noch einmal die zweite Konzerthälfte nach. Dabei sahen sie bei Licht betrachtet fast normal aus. Sie konnten trotzdem alle Texte. Ich blieb verwirrt: Es gibt Begeisterungen, die man nicht teilt, aber irgendwo doch ein bisschen nachvollziehen kann. Udo Jürgens, zum Beispiel, der kann ja was, das hätte ich verstanden, aber Roland Kaiser, nein. Und über das von ihm propagierte Frauenbild, ach soweit will ich gar nicht gehen, darüber muss man glaub ich gar nicht reden, oder doch, wenn man sich ansieht, wie ihm diese kleinen Mädchen Rosen vor die Füße werfen.
Zum Neutralisieren riss ich die Lautstärke meines CD-Players im Auto hoch. Egal, was laufen würde, es konnte nur besser sein. Kate Bush, tippte Herr Stenzel, der DJ, der eben noch jedes Lied kannte. PJ Harvey, riet er weiter, und endlich, als wir schon in Kreuzberg vor dem Bierhimmel parkten, wollte er nicht mehr weiterraten. Tori Amos, verriet ich, und bestellte als erstes ein Malzbier. Es war herrlich. Es lief Musik, die man mögen konnte. Herr Stenzel, der DJ, der sonst immer alles kennt, sah mich ratlos an, und als ich sagte, Siouxsie Sioux, schüttelte er den Kopf und wollte Recht haben. Wir fragten den Wirt, er hatte dicke Kajalstriche um die Augen und wollte nicht glauben, dass wir ihn wirklich fragten. Siouxsie Sioux, sagte er, denn es war das Offensichtlichste auf der Welt, aber Herr Stenzel, der DJ, der jeden Hit im Schlaf singen kann, verschüttete empört sein Jever und verließ laut klagend das Lokal. Mit diesem Frauengesang kenne er sich nicht aus, schimpfte er, gekrängt in der DJ-Ehre, und ich beruhigte ihn, indem ich ihm noch einmal ins Gedächtnis rief, wie wenig Roland Kaiser-Songs ich kannte. Zufrieden purzelte er am Hermannplatz aus meinem Käfer, und ich fühlte mich dem Wahnsinn nahe, denn ein Ohrwurm hatte sich festgesetzt, kein Kaiserlied, schlimmer gar, Roger Whittaker, „Wenn es Dich noch gibt“. Wo der wieder herkam, das weiß ich nicht. Ich glaube, jemand hat ihn auf dem Klo in der Pause gepfiffen.
Nie wieder, Herr Stenzel. Nie wieder.

(Das ist meine Version. Sie ist von vorne bis hinten gelogen, besonders, was die Charakterisierung von Herrn Stenzel angeht. Herr Stenzel wird das in seinem Blog alles richtigstellen.)

2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Habe es erst jetzt gelesen, aber es war köstlich - abgesehen von der Szene natürlich, in der Du die armen, unschuldigen Gummibärchen Miss-handelst (ich mag die neue deutsche Rechtschreibung nicht, aber manchmal scheint sie ja doch für ein paar ganz nette Assoziationen gut zu sein *flücht* *g*) ... ;-)

Liebe Grüße!! :-)

A.E. hat gesagt…

ach, mit dem abstand von jahren mag ich auch wieder meine lange peinlich verschwiegenen musikentgleisungen der jugend und lass bisweilen ganz provokant ein phudyscover unverdeckt neben dem plattenspieler zur geltung kommen...