Dahlem, nachts um zwei, gerade so 2008. Das Neujahrsfeuerwerk mag andernorts verschossen sein, nicht hier. Hier werden sie noch bis morgens um fünf knallen. Es heißt ja, man vertreibt damit die bösen Geister. Die Dahlemer haben eine Menge böser Geister zu vertreiben, mehr als in den Jahren zuvor.
Ganze Gruppen von Kindern (ohne Erwachsene) ziehen durch die fast unbefahrenen Villenstraßen entlang der U-Bahn-Linie, die hier zwischen Dahlem Dorf und Thielplatz nicht so richtig unterirdisch fährt, sondern eher tiefergelegt. Die Kinder verböllern in zehn Minuten das geschätzte Jahreseinkommen eines durchschnittlichen moldawischen Arbeiters, vielleicht auch mehr. Als ein Taxi vorbeifährt, warten sie höflich, denn es sind Dahlemer Kinder, dann böllern sie weiter. Die Flaschen, die als Abschussrampe dienen, lassen sie auf der Straße stehen. „Das holt morgen die BSR“, höre ich eines der Kinder sagen, und es klingt ein bisschen wie „Das räumt morgen unser Mädchen weg“.
Vor einer Garage brennt es still vor sich hin, was niemanden zu stören scheint. Erst als ich panisch stotternd auf das Feuer zeige, erbarmt sich jemand und wirft es mit ein paar der ordentlich aufeinandergestapelten Pflastersteine aus, die für die Erneuerung der Hofeinfahrt vorgesehen waren. Die Aktion erinnert nicht im Mindesten an die Rostocker G8-Demos, auch wenn ebenfalls Feuer und Pflastersteine zum Einsatz kommen. Es ist irgendwie anders, irgendwie Dahlem. An einer Bushaltestelle steht ein kicherndes Pärchen. Die beiden sehen sowohl gut situiert wie auch über vierzig aus. Sie sind noch nie mit dem Nachtbus gefahren, soviel ist klar, denn sie können den Plan nicht lesen und fragen dem Busfahrer, ohne einzusteigen, Löcher in den Bauch. Als die U-Bahn vorbeirattert, sind sie irritiert angesichts des Überangebots an öffentlichen Beförderungsmitteln. Sie lassen den Bus weiterfahren und wanken kichernd die Straße hinauf zum Eingang Dahlem Dorf.
So entgehen sie mir, ich bekomme aber Quasigesellschaft in Gestalt zweier junger Herren, die gerade von der Bahn ausgeworfen wurden. Sie sind frisch von einer Silvesterparty in der Stadt, denn so sagt man hier, wenn man nach Charlottenburg fährt, oder nach Mitte, da fährt man in die Stadt. Die jungen Herren, im Smoking und mit weißem Schal (also eher eine Party in Charlottenburg), rätseln darüber, wer wohl wen heute Abend woher gekannt haben könnte, wer wen mitgebracht hat und wer mit wem nach Hause gegangen sein mag. Sie wirken gar nicht betrunken, und ich verliere sie schon nach wenigen Metern, was nicht schlimm ist.
Auf einem abgesägten Baumstamm sitzt ein schlafender Teenager. Sein Freund telefoniert, weil er jemanden sucht, der ihm hilft, den anderen nach Hause zu tragen. Dann, in der Thielallee, gegenüber von Kino und Rostlaube, knallt es ganz schrecklich. Ich denke: die verzogenen Drecksgören schon wieder. Aber es sind zwei ältere Herren, nicht mehr ganz nüchtern, die in leeren Pommery-Champagnerflaschen vom Gehweg aus Raketen starten lassen. Dabei rauchen sie und applaudieren jedes Mal, wenn wieder eine in die Luft fliegt und Sterne in den Himmel zaubert. Ich schaue es mir eine Weile an und denke, gar nicht so schlecht, was sie hier machen. „Früher“, sagt einer, „früher haben wir hier studiert.“ Und der andere bestätigt: „Damals, vor vierzig Jahren, da waren wir hier.“ Ich nicke, damit er weiß, dass ich weiß, was er meint. „War ne schöne Zeit“, sagt der erste und sucht in der Innentasche seines langen YSL-Mantel nach einer neuen Zigarettenschachtel. „Fast von der Uni geflogen, damals“, sagt sein Freund zufrieden, und ich werde das Gefühl nicht los, dass der schräg auf dem Gehweg abgestellte Porsche etwas mit den beiden zu tun hat.
Ich gehe weiter nach Hause und versuche mir vorzustellen, wie viel Munition ich wohl bräuchte, um meine Dämonen zu vertreiben, und ob es Feigheit ist oder Angst, die uns dazu bringt, nach vierzig Jahren mit Porsche und Pommery die bösen Geister niederzuringen.
Mittwoch, Januar 02, 2008
Dämonen (Geschichten vom Dorf)
Eingestellt von Henrike um 5:16 AM
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2 Kommentare:
Ich sage sogar "Ich fahre in die Stadt", wenn ich von Schwabing aus zum Marienplatz fahre. Alte Angewohnheit von damals, als ich noch auf dem Dorf lebte.
@albertsen: München weist bis auf ein sehr enges Gebiet um den Marienplatz allerdings auch eher den Charakter eines überdimensionierten Dorfes denn den einer Stadt auf. Worauf vielleicht auch zurückzuführen ist, daß man sich dort so gerne mit dem Titel "Weltstadt mit Herz" (oder sind daran doch eher die Mietpreise schuld?) schmückt, nachdem der Titel "Hauptstadt der Bewegung" nicht mehr verwendbar ist...
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