Meine erste eigene Schallplatte bekam ich, da war ich noch ganz winzig, nämlich neun Jahre alt. Zu diesem Zeitpunkt malträtierte ich seit gut fünf Jahren das Klavier, das eigentlich angeschafft worden war, um die Weihnachtsabende heimeliger zu gestalten. Damit, dass ich meine Eltern mit Bachkonzerten in den Wahnsinn treiben würde, statt mit „O Du Fröhliche“ glücklich zu machen, hatte keiner gerechnet, und die Aufforderungen bei Familienfeiern, ich sollte doch mal was Schönes (Betonung auf: Schönes) spielen, ließen mit den Jahren nach, da niemand sonderlich viel mit Prokofjew oder Barber anfangen konnte. Chopin und Liszt wurden mit äußerster Verstörung aufgenommen, und Ravel sprengte im Allgemeinen die Aufnahmekapazitäten nach dem dritten Takt. Saint-Saëns durfte ich nur noch bei geschlossenen Fenstern spielen. Einzig Beethoven und Haydn fanden halbwegs Gnade.
Zu meinem neunten Geburtstag also hatte ich mir die „Rhapsody in Blue“ auf Schallplatte gewünscht, da ich sie noch nicht selbst spielen konnte. Mein Vater überreichte sie mir mit spitzen Fingern, und ihm war anzusehen, dass er sich eine mentale Notiz gemacht hatte: Gershwin = kompletter Unfug. Trotzdem hatte er, wie durch ein Wunder, die einzig wahre, einzig richtige, einzig einzige Aufnahme erstanden: Leonard Bernstein dirigierte und spielte Klavier. Keine Platte habe ich seither so oft gehört wie diese, und Bernstein wurde zum unerreichten Held meiner Klaviertage, so unerreicht, dass ich mich nie an die „Rhapsody in Blue“ heranwagte. Gershwin selbst hatte seine eigene Komposition nicht so genial spielen können, jedenfalls habe ich von ihm nur sehr schräge Aufnahmen, bei denen er sich dauernd verspielt. Herrlich, aber auf eine andere Weise.
Leonard Bernstein hingegen hatte Gershwin zum Vorbild, nicht, was die Klaviertechnik anging (zum Glück), sondern was seinen kompositorischen Erfolg betraf. Er schrieb in den fünfziger Jahren ein Essay mit dem wunderbaren Titel „Why Don't You Run Upstairs and Write a Nice Gershwin Tune“, in dem er sich unter anderem mit „Porgy and Bess“ auseinandersetzt und darüber jammert, dass er gerne auf der Straße Leute treffen würde, die seine Melodien vor sich hinpfeifen. Einmal vorgenommen, erreichte er genau dies kurz darauf mit der „West Side Story“. Und doch spielte er nie Gershwins Klavierkonzert in F oder dirigierte „Porgy and Bess“. Ich weiß es nicht genau, aber vielleicht war seine Hochachtung vor Gershwin doch zu groß, vielleicht scheiterte er an dem eigenen Anspruch, genialer als genial sein zu wollen.
Hätte ich das zwanzig Jahre oder so früher gewusst, hätte er mir nicht die „Rhapsody in Blue“ versaut, rede ich mir ein. Es ist immer ganz gut, wenn der Sockel, auf dem ein Idol steht, hin und wieder mal wackelt.
(Foto (c) Victoria Tomaschko)
Sonntag, August 26, 2007
„Why Don't You Run Upstairs and Write a Nice Gershwin Tune?“
Eingestellt von Henrike um 12:58 PM
Abonnieren
Kommentare zum Post (Atom)
1 Kommentar:
Liebe Frau Heiland,
sie können ihre Eltern trösten: beim Klavier gibt es wenigstens klar definierte Töne. Was wäre erst gewesen, wenn Sie Geige gelernt hätten? Und sie den Kratzeffekt von Pferdehaar auf Katzendarm hätten ertragen müssen?
viele Grüße
Jaelle Katz
Kommentar veröffentlichen