Montag, Juni 04, 2007

Publikumsbeschimpfung

Jedes Lesungspublikum hat seine Charakteristika und lässt sich grob in vorhersehbare Gruppen einteilen:

- Das perfekt vorbereitete Publikum. Sie haben fast alle das Buch schon gelesen und sich ausführlich Gedanken darüber gemacht, was sie die Autorin fragen wollen. (Schlecht für den Buchverkauf: Einer hat es gekauft und dann an seine Bekannten verliehen, die alle mit zur Lesung kommen.)

- Das Wirhabenschonallesgesehen-Publikum. Durch fast nichts zu begeistern. Eine nahezu konforme Masse an provokant gelangweilten Gesichtern mit verschränkten Armen und bestenfalls ironisch hochgezogenen Augenbrauen. Am Ende herablassender Mitleidsapplaus, man ist aber eigentlich schon auf dem Heimweg und unterhält sich gar nicht mehr über die Lesung. (Auch schlecht für den Buchverkauf: Schließlich hat man schon gnädigerweise zugehört, das muss reichen.)

- Das Heimspielpublikum. Schulkameraden, die man nie mehr wieder sehen wollte. Nachbarn, die einen plötzlich Siezen. Verwandtschaft, die nicht weiß, ob sie zugeben soll, dass sie denselben Nachnamen hat. Irgendwelche Menschen, die man noch nie gesehen hat, die aber behaupten, man kenne sich schon seit 30 Jahren, wenn nicht sogar. Neugier treibt sie alle in den Buchladen, und die Fragen, die im Anschluss gestellt werden, haben wenig mit dem Buch zu tun. „Du hast ja schon als Kind immer…“ Oder: „Kennst Du noch den Soundso, da soll ich Dich grüßen.“ Erzeugt bei der Autorin Paranoia wegen der Möglichkeit unvorhersehbarer Peinlichkeiten. (Hervorragend für den Buchverkauf, auch wenn vermutlich kaum jemand das Buch letztlich lesen wird.)

- Das Höflichkeitspublikum. Keiner kommt, bis auf fünf Leute, die aussehen, als hätten sie sich verlaufen. Unangenehm für alle, verkürzt die Lesezeit oft auf 10 Minuten. (Schlecht für den Buchverkauf. Ist ja keiner da, wer soll denn dann.)

- Das Siegerpublikum. Vor der Tür beschimpfen sich Menschen, weil sie aus unerfindlichen Gründen noch einen Platz haben wollen, obwohl es ausverkauft ist. Wer reinkommt, ist erhitzt und aufgekratzt. Die Autorin kann nur hoffen, dass sich die latent aggressive Kampfesstimmung nicht negativ auf sie überträgt. (Klasse für den Buchverkauf: Das signierte Buch wird als Trophäe herausgeschleppt, oft auch zwei- oder dreifach zum Verschenken.)

- Das schweigende Publikum. Findet sich gerne in Regionen, die dafür bekannt sind, dass die Einwohner eher zurückhaltender Natur sind. Sie wissen nicht, wann sie klatschen sollen, oder ob überhaupt, es könnte ja unpassend sein. Sie sagen keinen Ton, weil sie sowieso nicht viele Worte machen. Sie hören zu, gehen nach Hause, und irgendwann in den nächsten Tagen denken sie darüber nach, ob sie nicht vielleicht doch mal das Buch kaufen. (In jeder Hinsicht total unberechenbar.)

Mit dieser Analyse im Hinterkopf sollte selbst der bekennend soziophoben Autorin klar sein: So eine Lesung kann nur super bis katastrophal laufen. Oder irgendwas dazwischen.

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