Donnerstag, Juni 18, 2009

Die Jacke

Im Wartezimmer.

Dramatis Personae:

Er (ca. 85)
Sie (ca. 85)
Patient (ca. 45)

Er: Dass die hier immer klassische Musik spielen müssen.
Sie: Ist doch nett.
Er: Immer Musik.
Sie: Ach, das macht doch nichts.
Er: Da kann man sich gar nicht konzentrieren.
Sie: Du musst dich doch auch im Wartezimmer nicht konzentrieren.
Er: Aber wenn ich mich konzentrieren müsste, könnte ich es nicht.
Sie: Das musst du aber nicht.
Er: Früher konnte ich mich überall konzentrieren.
(Patient geht raus)
Sie: Ja? Ich kann das ja heute immer noch ganz gut. Ach, sieh mal, der Mann, der gerade aufgestanden und rausgegangen ist. Der sieht aus wie der Joachim.
Er: Weiß ich nicht. Wieso sieht der aus wie der Joachim?
Sie: Doch, wirklich. Ich hab ja ein gutes Personengedächtnis.
Er: Das hatte ich früher auch mal.
Sie: Ich hab es immer noch. Für Gesichter. Gesichter merk ich mir immer. Nur die Namen dazu nicht. Aber dann sag ich immer zu den Leuten: Sie wissen ja selbst, wie Sie heißen.
Er: Früher konnte ich mir auch immer Leute merken. 140 Leute hab ich mir da gemerkt, wie nichts! 140! Und ich war für alle verantwortlich! Früher! Sag mal, die Jacke da.
Sie: Ja, stimmt, die hängt da schon die ganze Zeit. Vielleicht hat die jemand vergessen, gestern, als es so warm war.
Er: Nein, da war es so warm.
Sie: Ja, eben.
Er: Niemand ist gestern mit Jacke gegangen.
Sie: Vielleicht gehört sie dem Herrn Doktor.
Er: Dem Herrn Doktor? Diese Jacke?
Sie: Ja, stimmt. Mit sowas läuft der Herr Doktor nicht rum. Passt nicht zu ihm.
Er: Obwohl ja heute alles möglich ist. Heute macht man alles. Heute ist man individuell. Da isst man überall und trinkt auf der Straße Kaffee und zieht einfach irgendwelche Sachen an. Früher habe ich mich immer gut angezogen.
Sie: Tust du immer noch.
Er: Heute dürfen sie alles. Jeder anders, wie er denkt. Man ist individuell.
Sie: Aber trotzdem glaube ich nicht, dass der Herr Doktor mit so einer Jacke ...
Er: Der ist doch auch so individuell, der Herr Doktor.
Sie: Ach, das darf er doch ruhig.
Er: Mit dem Kaffee in der Hand auf der Straße hab ich ihn gesehen. Ganz individuell, der Herr Doktor.
Sie: Und hatte er diese Jacke an?
Er: Nein. Aber es war auch so eine individuelle. Die passte so richtig dazu, dass er mit dem Kaffee in der Hand auf der Straße herumlief. Bestimmt hat er auch schon auf der Straße gegessen. Pizza oder sowas.
Sie: Ach, das kann ich mir nicht vorstellen. So einer ist der Herr Doktor doch nicht.
Er (steht auf): Aber mit dem Kaffee.
Sie: Wo willst du denn hin?
Er: Ich frag jetzt mal die Mädchen da draußen, ob denen die Jacke gehört.
Sie: Aber das ist doch eine Männerjacke. Und jetzt setz dich wieder hin.
Er: Ganz individuell, die Mädchen. Tragen ja auch Hosen. Aber das tun sie ja schon lange. Man gewöhnt sich sogar dran, dass sie Hosen tragen.
Sie: Das ist nun wirklich nicht sehr neu.
Er: Ich frag jetzt mal.
(Die Tür geht auf, der Patient von vorhin nimmt sich seine Jacke und verschwindet wieder.)
Sie: Ach, das hätte ich ja nun gar nicht gedacht.
Er: Der sah gar nicht so individuell aus.
Sie: Aber zu dem passt die Jacke.
Er: Der erinnert mich an jemanden. Erinnert der mich an jemanden?
Sie: An den Joachim.
Er: Der ist doch viel jünger. Der studiert doch noch. Oder welcher Joachim?
Sie: Ja, doch.
Er: Der Joachim würde doch nie mit so einer Jacke!
Sie: Jetzt setz dich wieder hin. Wir sind gleich dran.
Er: Wenn der Joachim fertig studiert hat und eine eigene Praxis macht, dann macht der bestimmt doch keine klassische Musik im Wartezimmer.
Sie: Vielleicht bleibt er ja im Krankenhaus.
Er: Meinst du, da spielen sie dann auch Musik?
...

6 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

hat was von Loriot. Außer "individuell", das passt nicht zu Loriot, Das würd eher zu Heinz Becker passen, wenn es etwas Dialekt hätte.
Andererseits sind die -Hilde und Heinz - noch nicht so alt, oder doch? Hab die schon so lange nicht mehr gesehen.

Henrike hat gesagt…

schau den saarbrücker tatort. da sind zumindest hilde und stefan.

Unknown hat gesagt…

Sehr schön!

krimiblog hat gesagt…

Bin begeistert. Wenn Sie doch nur Ihre Ruhrgebietsstory, auf die ich warte, so schön schrieben, Frau Heiland.
Herausgeber K

LitTalk hat gesagt…

Gern gelesen und dabei geschmunzelt. Ich frage mich, ob ich auch so bin bzw. von den anderen so gesehen werde? Persönlich findet man sich ja fit - besonders geistig? Ob die Selbsteinschätzung wohl trügt? Ich werde es niemals erfahren!
tjm.

Anonym hat gesagt…

kann doch wegen attitüde den saarbrücker tatort nicht sehen!